Meine Sekretärin und ich
Meine wichtigste Mitarbeiterin hat mich heute allein gelassen. Sie nimmt an einem Workshop teil; eine angeblich wichtige Informationsveranstaltung inklusive Austausch unter Kolleginnen, nennt sie es. Ich aber sage dazu: Gipfeltreffen mit dem einzigen Ziel, die eigene Macht in Deutschlands Unternehmen zu festigen.
Aber der Reihe nach: Meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, durchaus beträchtlich an der Zahl, nennen mich Chef. Ich habe sie nicht dazu gezwungen, sie kamen von selbst darauf – und ich interpretiere dies als Ergebnis der ehrlich-erdigen Unternehmenskultur, für die ich mich einsetze.
Auch meine Sekretärin, ihres Zeichens und neuhochdeutsch Assistentin der Geschäftsführung, nennt mich Chef. Sie tut dies aber in einem Ton, der es unterschwellig, aber umso wirkungsvoller vermeidet, bei mir ein Gefühl der Sicherheit zu hinterlassen. Im Gegenteil: Sind wir beide alleine, klingt das „Chef“ dem „Kleiner“ einer fürsorglichen Mutter täuschend ähnlich, die den Schmerz ihres Sohnes nicht wirklich ernst nimmt.
In Anwesenheit anderer Mitarbeiter klingt das „Chef“ jedoch anders. Macht signalisierend. Dominanter. Respekt fordernd und bedingungslose Ergebenheit fordernd. Nein, nicht für mich, den Chef – sondern für die Chefin des Chefs. Meine Sekretärin.
Bei analytischer und uneitler Betrachtungsweise muss ich zugeben: Meine Sekretärin ist ein Profi und sie hat es verdient, von den Mitarbeitern heimlich als „die Chefin“ bezeichnet zu werden. Unmerklich schnitt sie mich von der Außenwelt ab: Kein Mensch dringt heute ohne ihre Erlaubnis in mein Büro, mein Terminkalender wird chronologisch gefüllt nach ihren persönlichen Vorlieben.
Meine Sekretärin nimmt mir jede Arbeit und Belastung ab. Kein Hochzeitstag, den ich vergesse, und bei der Unterschrift unter Dokumenten vertraue ich ihrer Empfehlung statt mühsamer Eigen-Lektüre. Dank stets gefülltem Kuchen- und Schokoladenteller haben mich 30 Kilogramm Übergewicht etwas träge gemacht, den wenig schmeichelnden Blick in den Spiegel relativiert meine Sekretärin allerdings erfolgreich mit dem täglichen Kompliment.
Ich weiß: Ich bin ein moderner Kaiser von China – ausgestattet mit den Insignien der Macht. Aber auch nicht mehr.
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Egal.
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Wann kommt endlich meine wichtigste Mitarbeiterin wieder vom Work-Shop? Ich vermisse sie so sehr.