Der Junge mit der abgefackelten Laterne
Es ist Martinstag und der passende Zeitpunkt für ein Bekenntnis:
Ich hasse jegliche Form von Handarbeiten und Werken. Ob ich übertreibe? Nein, Sie verstehen mich schon richtig: Es ist nicht eine abgestufte Form von “nicht mögen” oder “nerven”, sondern es ist lupenreiner, unverfälschter Hass. Und seinen Anfang nahm dieses mächtige, bis heute fortdauernde Gefühl vor ziemlich genau 44 Jahren.
Es war im Kindergarten und es war die Martinslaterne, die das Kleinkind basteln musste. Dazu gab es Pergamentpapier, kleine Töpfchen mit billiger Wasserfarbe und große Töpfchen mit noch billigerem Kleister. Verwirrt saß ich vor der Aufgabe und den Töpfchen und wusste nur, dass es nicht gut enden würde.
Schon damals gab es Kinder, die gerne werkelten und malten und sich quietschend über Pergament, Farbe und Kleister hermachten – zur Freude der drallen Kindergärtnerinnen, die schon damals zu diesen Kindern so zuckersüß sein konnten. Und es gab die Streber-Kinder mit den Streber-Eltern, die lieber daheim bastelten und anderntags mit perfekten Laternen auftauchten.
Ich war das andere Kind. Ich war nicht nur groß und übergewichtig (mein Lehrer schrieb vier Jahre später dezent ins Zeugnis “korpulent” – der Begriff, der damit mein erstes bekanntes Fremdwort sein sollte), meine feinmotorischen Fähigkeiten standen außerdem in ihrer Dürftigkeit kaum dem Ausmaß meiner Vorliebe für prompte Verschmutzung nach.
Das Ergebnis dieser unheilvollen Verbindung: Alle Farben flossen auf dem Pergament UND auf mir zu einer braunen Suppe zusammen. Unmengen von Töpfchen Kleister gaben zudem der Laterne eine Standfestigkeit, die für die Ewigkeit hätte sein können. Nur meine Mutter hatte abends enorme Schwierigkeiten, meine zusammengeklebten Finger zu trennen und den Restkleister aus Gesicht, Haaren und Kleidung zu entfernen.
Ich sage Ihnen: Solche Abende, die sich in den vielen Jahren, die folgten, nach jedem Werkunterricht wiederholten, prägen eine zarte Seele wie die meinige nachhaltig.
Während also die rheinischen Narren den Karneval oder die Fastnacht ausrufen und in bayerischen Bauernhöfen unzählige Gänse unvermittelt ihr vielleicht sogar sehr glückliches Leben lassen, während also Milliarden von Kindern mit selbst gebastelten, bunten Laternen singend durch die Straßen ziehen, werde ich von den Geistern aus längst vergangen geglaubten Zeiten heimgesucht:
Als Kleistermann wanke ich am Ende des Zugs durch dunkle Nächte und schwenke die braune Laterne, in deren Mitte verzweifelt ein kleines Teelicht flackert. Keiner nimmt Notiz von meiner Laterne und mir; dankenswerterweise fällt aber auch keinem auf, dass ich der einzige bin, der den Text von “Laterne. Laterne” nicht kann. Eigentlich ist die Lage nicht so schlecht – wenn Kleister nicht hochentzündlich wäre.
Und so mach ich auch in meinem Albtraum dem Namen alle Ehre, den ich mir ich mir in kindlichen Jahren bei vielen Martinszügen redlich verdient hatte: Ich bin der Junge mit der abgefackelten Laterne. Das Schlimme daran: Alles ist genau so geschehen.
Das Schlimmste daran: Gestern sah ich meinen kleinen Sohn, wie er verwirrt vor billigem Pergamentpapier saß, das er gerade beidhändig mit brauner Wasserfarbe traktiert hatte. Als er die Kleistertube ergriff, ergriff ich die Flucht.
Die Geschichte beginnt von vorne.
c/o Bernhard Krebs