“Entschuldigen Sie bitte, junger Mann!”
Wer im Job nach oben und dort auch bleiben will, muss erkennen, wann er auf Menschen trifft, die ihm überlegen sind.
Ich arbeite an dieser Eigenschaft. Allerdings nicht immer mit Erfolg, denn manche Niederlagen sind zu schmerzhaft.
Gestern ist es wieder passiert. Ich hatte mich gut vorbereitet und penibel auf jedes Zeichen geachtet. Alle Vorsichtsmaßnahmen waren getroffen, alle Unabwägbarkeiten ausgeschlossen. Ich war in der Form meines Lebens, so schnell wie noch nie, nahezu unüberwindbar. Und dann ist es doch wieder passiert.
Abends im Supermarkt, kurz vor 18 Uhr. Ich habe etwas früher Feierabend gemacht und schleiche auf leisen Sohlen durch die Gänge, aus dem Lautsprecher klingt gedämpfte Hammondorgelmusik. Ganz langsam biege ich um die Palette mit dem Waschmittel, kurve gekonnt um den mobilen Verkaufsstand, an dem ein verzweifelter 21jähriger im Konfirmationsanzug Dosensuppen anpreist. Immun gegen diese Verlockungen gleite ich weiter, mein sorgsamer und leicht gehetzter Blick streicht ohne Interesse an Gemüsestand und Weinregal vorbei, denn:
Wenige Meter vor mir leuchtet verheißungsvoll die Wursttheke.
Langsam, ganz langsam nähere ich mich, verharre kurz – und überwinde die letzten Meter mit einem waghalsigen Sprung. Nur etwas außer Atem will ich gerade 200 Gramm feinste Salami aus den Abruzzen bestellen, da trifft mich der verbale Keulenschlag genau zwischen die Schultern. Es ist passiert, sie ist da!
Maximal 1,59 Meter groß und mindestens 90 Jahre alt steht die nette Dame vor mir und lächelt mich an: “Entschuldigen Sie bitte, junger Mann. Würde es Ihnen etwas ausmachen mich vorzulassen? Ich verpasse sonst meinen Bus.”
Wer könnte da nein sagen? Ich jedenfalls nicht, zumal sie mich frappierend an meine Großmutter erinnert.
Eine Viertelstunde später. Die gleiche Szene vor der Kasse. Wieder glaube ich mich schneller, wieder muss ich vor der Terminnot der alten Dame kapitulieren. Während sie beteuert, dass es jetzt wirklich knapp wird bis zur Abfahrt des Busses, frage ich mich (den frustrierten Tränen nahe), ob ich angesichts meiner offensichtlich fehlenden Durchsetzungsfähigkeit nicht den Job wechseln sollte.
Anderthalb Stunden später. Ich war mittlerweile daheim, habe zu Abend genüsslich die 200 Gramm Salami (ohne Brot!) verzehrt – und fahre nun auf dem Weg zum Fitness-Studio am bekannten Supermarkt vorbei. Resigniert erkenne ich die alte Dame, die auf dem Trottoir in ein Gespräch mit zwei anderen Frauen vertieft ist. Der Bus ist weg.
Für die wirklich wichtigen Dinge im Leben muss man sich Zeit nehmen.
c/o Bernhard Krebs