Die Zeit-Optimierer und die Pünktlichkeit
Ich habe noch nie einen Bus verpasst, einen Zug schon gar nicht. Geschweige denn ein Flugzeug. Ich kam auch noch nie zu spät zu einem beruflichen Termin.
Und dabei gehöre ich zu den Menschen, die nicht die Abfahrtszeiten ihrer U-Bahn kennen und auch nicht die genaue Einstiegsposition. Ich wusste selbst nach acht Jahren nicht, dass man in München an der Haltestelle „Kreiller Straße“ am besten genau 45 Meter hinter der Fahrerkabine einsteigt um zwei Stationen weiter am „Innsbrucker Ring“ den perfekten Umsteige-Platz zur U5 zu besitzen.
Und erst ganz am Ende meiner zwölfjährigen Zeit in der bayerischen Hauptstadt wurde mir gesagt, dass ich vom Ostbahnhof zum Weißenburger Platz zu Fuß genau 4 Minuten und 53 Sekunden benötige – sofern mir keiner im Wege steht, ich mich im leidlich trainierten Zustand befinde und keine Blasen an den Füßen habe.
„Just in time.“ Das ist nicht nur Englisch, das ist mir auch fremd.
Diese Unkenntnis wiederum erschließt mir ungeheure Zeitpotentiale. Wenn ich zum Beispiel traditionell 9 Minuten und 57 Sekunden auf die nächste U-Bahn warte. Wenn ich orientierungslos wieder einmal Umwege laufe oder eine Stunde zu früh zu einem Termin erscheine und mich dann an Hausmauern entlang drücken muss. Wenn ich auf Flughäfen mindestens vier Stunden vor dem Check-in vor Ort bin, weil man weiß ja nie…
Dagegen drängt die langjährige Erfahrung durchaus den Verdacht auf, dass Zeit-Optimierer gerne mal zu spät kommen. Seltsam, oder?
Es scheint, die ganze Welt geht unter dem Optimierungs-Joch in die Knie!
Ich nicht. Im Gegenteil. Mein Leben ist nicht optimiert. Und wird es auch nie sein, Barrierefreiheit hin oder her. Ich „zicke“ sogar richtiggehend, sobald irgendwer mich oder mein Leben optimieren will. Mit meinem besten Freund streite ich noch heute, wenn ich in unserem Heimatort nicht den kürzesten Weg von A nach B nehmen will – einfach, weil mir der andere besser gefällt.
Bei gemeinsamen Motorradausfahrten wusste ich nie, wie viele Kilometer ich noch fahren konnte. Ich tankte einfach immer, wenn sich die Gelegenheit bot – und grinste wenig später, wenn die Tank-optimierten Biker-Freunde mitten im Niemandsland ohne Sprit stehen blieben.
Der verzweifelte Kollege, der am PC jede optimierte F-Tastenkombinationen kennt, die Ehefrau, die zur Erleichterung der Hausarbeit manche Gerätschaft teuer erworben hat, oder all die Supermarkt-Kassiererinnen, die mich beharrlich nach irgendwelchen „Karten“ fragen – sie alle wollen nicht verstehen, dass ich das Zeug nicht brauche. Geschweige denn finden würde, wenn ich es mal brauchen sollte. Ja, selbst die automatische Zeichenkorrektur des Handys verweigere ich.
Es bringt ja nichts, wenn ich schneller schreiben, laufen oder arbeiten könnte. Ich kann deshalb nämlich nicht schneller denken, nicht besser schauen oder auch nicht mich gemütlicher langweilen. Statt viel Geld in eine vollautomatische Gartensprenganlage auszugeben, trage ich deshalb lieber meine Gießkannen mühsam, aber entspannt zu den Beeten und freue mich an den Schmetterlingen.
Oder ich denke auch mal an gar nichts. Das schafft unglaublichen Raum zum Träumen. Das Leben ist nämlich schön und spannend. Auch so.
(Foto) Meine Großeltern wussten sehr gut, wie sie ihre Zeit nutzen konnten.
c/o Bernhard Krebs