Ein Abend unter medizinischen Experten
„So gesund kommen wir nicht mehr zusammen!“
Meine Frau behauptet, ich wäre ein mittelschwerer Hypochonder und würde den kleinsten Schnupfen zum Anlass nehmen, geschwächt, kränkelnd und letztlich auch wegen der mangelnden Fürsorge gekränkt, das Bett zu hüten.
Da hat sie natürlich Recht, sie ist meine Frau.
Mitleid von ihr? Bekommen nur die Kinder – oder ihre Eltern, wenn sie das Alter und den Verfall des Körpers beklagen. Und ich? Fehlanzeige, obwohl gerade ihre Eltern nicht ganz unschuldig daran sind, dass in meinem Körper gerade akut alle Systeme zusammen brechen. Meine Schwiegereltern feierten nämlich gestern Goldene Hochzeit und ich durfte im leer geräumten Wohnzimmer am Biertisch mit Oma, Opa und ihren älteren Geschwistern Platz nehmen. Die Jahre, die hier versammelt waren, hätten sicher eine vierstellige Zahl ergeben.
Während meine Frau den Service kundig übernahm und die Jungs wie immer irgendwo Unsinn trieben, machte ich zwischen Vorspeisen-Salat und den Gemischten Braten den folgenschweren Fehler und fragte Großtante Hildegard: „Wie geht es dir eigentlich so?“
Es dauerte nur Bruchteile von Sekunden – und schon brach am Tisch ein medizinischer Diskurs lauter Experten los, die sich (nicht nur) Begriffe wie Bypass, großes Blutbild mit Was-weiß-ich-für-Werten, Hämorrhoiden und Schilddrüsenunterfunktion um die Ohren warfen.
Wissen Sie, was für mich (siehe eingangs genannten Hypochonder) das größte Problem dabei ist: Die Detailverliebtheit, wenn es um die Beschreibung diverser Krankheiten geht. Sie nimmt zweifellos im Alter zu, was gestern Abend der 93jährige Urgroßonkel bewies, als er ausführlich und kenntnisreich die Furunkeln und Abszesse in Körperregionen erörterte, die ich nicht einmal gegenüber meiner Frau zitiere.
Und ich? Meine Fantasie führte dazu, dass meine Beine taub wurden, während Onkel Erich von seiner Krampfadern-Operation berichtete. Das vehement diskutierte „Schlagerl“ (man merkt fast nichts mehr) von Großtante Babette brachte die Adern in meinem Kopf fast zum Platzen, die anschließende Stuhlgang-Diskussion verleideten mir den Braten samt Sauce. Ganz zu schweigen von den sieben überlebten Herzinfarkten am Tisch, die mich prompt in Panik stürzten: Ich spür´ es schon, der linke Arm tut weh….
Das wiederum beschäftigte mich die ganze Bayerische Creme hindurch, die als Nachspeise und zum eilig herbei geholten Blutdruckmessgerät gereicht wurde. Meine Werte wollte ich nicht wissen, die meiner Schwiegermutter und ihres Mannes aber machten den versammelten Experten Sorgen. Mir auch, denn ich kenne den Großvater meiner Enkel, der sich jegliche ärztliche Einmischung in sein Leben verbietet.
Nach einer schlaflosen Nacht, in der ich die Haus-Apotheke leer geräumt und in vielen großen Dosen oral eingenommen habe, saß ich heute Morgen zitternd am Frühstückstisch und erwartete den Anruf, der den plötzlichen Krankenhausaufenthalt von Opa mitteilt. Das Telefon klingelte tatsächlich – am anderen Ende der Leitung verkündete der Schwiegervater, dass man sich zum Spontanurlaub in Madeira entschlossen habe. Weil: „So jung und gesund bleiben wir nicht immer.“
c/o Bernhard Krebs