Olaf und Karlinchen
(Egal, was die Leute behaupten: Man kann einfach nicht genug spielen.)
Um die wichtigste Frage gleich vorneweg zu nehmen und auch die folgende Geschichte nicht mit Vorurteilen zu belasten: Ohrenwürmer kriechen nicht in die Ohren von Menschen – auch nicht in Gegenden, wo Menschen sie Ohrenkriecher, Ohrenzwicker oder Ohrenkneifer nennen und kleinen Kindern Angst einjagen möchten. Tatsächlich kommt ihr Name daher, dass die alten Griechen und Römer meinten, wenn man die kleinen, armen Viecher zerstampft und pulverisiert, hilft das gegen Ohrenkrankheiten und gegen Taubheit.
Davon weiß Karlinchen aber nichts, es interessiert sie auch nicht. Dabei ist sie doch selbst ein Ohrenwurm-Mädchen und zwar ein ziemlich stolzes. Obwohl sie kleiner als die anderen ist, lässt sie sich von den Ohrenwurm-Jungs gar nichts gefallen, selbst wenn diese sie zu ärgern versuchen.
Wie alle Ohrwurm-Kinder spielt Karlinchen sehr gerne. Und wie alle ihre Freunde staunt sie immer über die Ameisen und Bienen, wenn sie mal welche treffen. Das kommt selten genug vor, aber es ist für sie stets eine Begegnung mit Aliens (wobei Ohrwürmer diesen Begriff freilich nicht kennen), denn Ameisen und Bienen spielen nicht. Sie arbeiten. Von früh bis spät, von Geburt bis zum Tod.
Karlinchen hat noch nie mit einem Ameisen-Kind gesprochen, sonst hätte sie bestimmt gefragt: „Kennt Ihr eigentlich etwas anderes als Arbeiten? Spielt ihr auch zwischendurch?“ Das kleine Ohrwurm-Mädchen kann nämlich nicht glauben, dass Kinder nicht spielen. Sie selbst tut eigentlich nichts anderes – und ihre Mama und ihr Papa haben auch noch nie gesagt, dass sich das mal entscheidend ändern wird. Denn es ist wahr, Ohrwürmer spielen auch als Omas und Opas sehr gerne.
Das einzige Problem, das Karlinchen hat: Ohrenwürmer spielen immer das Gleiche, sie kennen nämlich nur ein Spiel und das heißt „Stupsen“. Dazu laufen sie in einer dunklen Ritze oder in einer noch dunkleren Ecke wild durcheinander und stupsen sich gegenseitig an. Und bei jedem Stupser schreien sie „Stups dich“ … und laufen weiter.
Das ist viel lustiger als es klingt. Und trotzdem kommt der Tag, an dem Karlinchen plötzlich keinen Spaß mehr an diesem Spiel hat. Sie findet es richtig langweilig und fad – und als sie ein Freund stupst, stampft sie fest mit dem rechten, vorderen Fuß auf und sagt bestimmt „Mir reicht´s“. Und weil die anderen Ohrwürmer davon keine Notiz nehmen und weiter spielen, beschließt Karlinchen abzuhauen. Sie kommt aber nicht weit, denn nur einen Meter weiter, um die Hausecke herum, stößt sie gegen ein anderes Tier.
Sie sieht in zwei verdutze Augen, die neugierig hinter einer dicken Brille hervorlugen. Und sie hört ein erschrockenes „Aua!“, gefolgt von einem etwas weinerlichen „Du bist mir auf meinen vierten Fuß getreten. Und auf den siebten auch.“ Karlinchen weiß sofort, welches Tier da vor ihr steht, denn sie hatte schon welche vor geraumer Zeit in der hintersten Ecke des Zimmers gesehen: „Du bist eine Kellerassel.“
„Das weiß ich selbst. Da brauche ich keinen Ohrwurm dazu“, brummt ihr Gegenüber und reibt sich dabei zwei Beine. „Ich bin Karlinchen. Und wie heißt Du?“, will das Mädchen lachend wissen, woraufhin der Kellerassel-Junge nur meint: „Olaf“.
„Gesprächig bist Du ja nicht gerade“, beschwert sich Karlinchen, gibt aber noch nicht auf: „Willst Du mit mir spielen? Kannst Du überhaupt spielen? Oder seid Ihr Kellerasseln wie die Ameisen, die nur arbeiten? Und wenn nicht, welche Spiele kennst Du?“ Olaf ist sichtlich verstört und schweigt etwas überfordert angesichts des Fragen-Bombardements.
Als das Ohrwurm-Mädchen nach drölfzig weiteren Fragen kurz Luft holt, ist die Zeit für Olaf gekommen: „Und wann spielen wir endlich?“, meint er grinsend und rennt schon mit einem „Komm, lass uns die kleinen Gräser in den Fugen zur Hausmauer kitzeln“ davon. Karlinchen fackelt ebenfalls nicht lange und lässt sich von ihrem neuen Freund zeigen, wie man gekonnt Gräser kitzelt. Denn nur, wenn man es richtig macht, rollen sie sich ganz fest zusammen, springen wieder auf und vibrieren anschließend so fest, dass es eine wunderschöne Melodie ergibt. Aber nur, wenn man mehrere Gräser gleichzeitig kitzelt.
Staunend kommen immer mehr Ohrwürmer heran, die im Anblick des Gräser-Schauspiels ganz vergessen haben, dass sie sich eigentlich anstupsen wollten. Fasziniert lauschen sie den Klängen und kitzeln selbst Gräser, so dass das grüne Orchester immer größer und die Musik immer kräftiger wird. Bis, ja bis Olaf weiterläuft und Karlinchen zuruft: „Und jetzt spielen wir ‚Blinder Regenwurm-Verstecken´ und dann ‚Dreckkügelchen drehen` und dann ‚Glühwürmchen wirbeln‘ und dann ….“
Die beiden spielen den ganzen Tag und jeden darauffolgenden Tag – und jeden Tag fallen ihnen neue Spiele ein, zu denen immer mehr Ohrwürmer und Kellerasseln kommen. Natürlich, manchmal spielen sie auch „Stupsen“, das ihnen immer noch viel Spaß macht. Aber dank Olaf und Karlinchen haben sie so viele neue Spielideen, dass ihnen garantiert niemals langweilig werden wird.
Und manchmal schaut sogar eine kleine Ameise bei den spielenden Tierkindern vorbei, die, wenn die Mutter nicht achtgibt, auch zwischendurch gerne ein Gras kitzelt. Spielen macht nicht nur Spaß, Spielen bringt auch zusammen.
c/o Bernhard Krebs